"Einen indirekten Impfzwang finde ich nicht gut" – Seite 1

Es ist Sonntagabend, 20 Uhr, kurz vor dem dritten TV-Triell und wenige Tage vor der Bundestagswahl. Valentin Heusgen ist 24 Jahre alt und studiert Ingenieurswissenschaft in Regensburg. Er wird gleich mit Henrike Quast diskutieren, einer 45-jährigen Juristin aus Düsseldorf. Beide sind in neun Fragen, die bei der Aktion Deutschland spricht gestellt wurden, unterschiedlicher Meinung. Klimapolitik, Umverteilung, Corona – bei all diesen Themen gibt es zwischen ihnen Dissens. Heusgen und Quast sind zwei von 24.000 Menschen, die in diesem Jahr bei Deutschland spricht eine Person zum Vier-Augen-Gespräch treffen, die politisch ganz anders denkt. Quasts Zoom-Hintergrund zeigt die Skyline ihrer Heimatstadt, Heusgen ist gerade im Urlaub in Kroatien.

Valentin Heusgen: Moment, ich muss gerade noch den anderen in der Ferienwohnung sagen, dass sie aus dem Internet gehen sollen. So! Schön, dass es geklappt hat!

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Henrike Quast: Ebenfalls, ich beneide dich um Kroatien!

Heusgen: Also: Ich fände spannend, zu besprechen, was für uns beide gerecht ist. Ist es gerechtfertigt, reicheren Menschen mehr wegzunehmen, um ärmere Menschen zu unterstützen?

Quast: Ich denke: Nein. Allein schon deshalb nicht, weil es Menschen gibt, denen ein einfaches Leben reicht, Aussteiger zum Beispiel. Wir brauchen Chancengleichheit. Jedes Kind muss durch ein vernünftiges System die Chance haben, sich zu entwickeln, wie es möchte.

Heusgen: Aber diese Chancengleichheit kann Deutschland ja gerade nicht gewährleisten.

Quast: Wir kriegen diese Gleichheit aber auch nicht durch Umverteilung. Es bringt nichts, 1.000 Euro an jemand auszuzahlen, der nicht mit Geld umgehen kann oder der aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten nicht in der Lage ist, sein Kind zu fördern.

Heusgen: Es geht doch um Zeit! Viele Familien können sich nicht so gut um ihr Kind kümmern, wie sie möchten, weil sie andere Dinge im Kopf haben. Zum Beispiel, wie sie mit ihrer finanziellen Not fertig werden. Wenn mehr Geld zur Verfügung stünde, könnten diese Menschen sich besser um ihr Kind kümmern.

Quast: Mehr Zeit zu haben als jemand, der von Hartz IV lebt, geht nicht. Viele werden sogar mehr Zeit haben, als sie eigentlich wollen. Zumindest unterstelle ich das für die Mehrzahl der Fälle.

Heusgen: Ich tue mich auch schwer, die Position eines Hartz-IV-Empfängers nachzuvollziehen, weil ich so ein Leben nicht kenne. Deine Sichtweise finde ich allerdings sehr privilegiert.

Quast: Ich hatte aber keine Privilegien. Ich habe mit 16 neben der Schule angefangen zu arbeiten. Es mag sein, dass ich einen anderen Eindruck erwecke, aber das ist ein Vorurteil.

Heusgen: Okay, dann finde ich deine Aussage immer noch verallgemeinernd. Glaubst du wirklich, dass mehr Geld für den Einzelnen keine Auswirkungen auf dessen Chancen hätte?

Quast: Das würde ich nicht sagen. Eine individuelle Förderung wie Nachhilfeunterricht oder Gutscheine für den Sport- oder Musikverein würde ich nicht ablehnen – da investiere ich schließlich in das Kind. Ich sehe aber nicht, wie jemand ohne Schulabschluss oder Berufsausbildung plötzlich in der Lage sein sollte, sein Kind zu fördern, nur weil mehr Geld fließt. Deshalb muss das Geld in die Institutionen, in die Kitas und Schulen. Das System muss verändert werden.

Heusgen: Da sind wir uns einig. Es muss aber beides geben: Mehr Geld für die Institutionen und mehr Geld für den Einzelnen. Individuelle Förderung wäre doch auch so etwas wie das bedingungslose Grundeinkommen. Da wärst du dagegen, oder?

Quast: Wenn es ein garantiertes Grundeinkommen geben würde: Welchen Anreiz hätte ich dann, etwas an meiner Situation zu ändern?

Heusgen: In Norwegen wurde das ausprobiert und das Ergebnis war ganz klar: Es funktioniert, die Leute ruhen sich nicht aus. Ich selbst habe bisher ein Leben geführt, wo Geld keine große Rolle spielen muss. Ich kann studieren, was ich möchte. Wenn ich aber keine finanzielle Sicherheit habe, dann kann ich mein Können und meine Fähigkeiten nicht frei entwickeln.

Quast: Das hört sich sehr theoretisch an für mich. Für mich hat Geld immer eine Rolle gespielt, meine Eltern mussten auch auf's Geld schauen. Das hat mich dazu gebracht, meine Lebensentscheidungen danach auszurichten, womit ich Geld verdiene.

Heusgen: Ich lebe auch nicht in Saus und Braus! Aber ich weiß, dass ich immer etwas auf dem Teller habe, oder eine Hose kaufen kann...

Quast: Das sollte in Deutschland bei jedem der Fall sein.

Heusgen: Ich glaube, so eine Sicherheit hat man als Hartz-IV-Empfänger nicht. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde Menschen dabei helfen, zu sagen: Ich muss mich nicht mit Essen oder Hosen beschäftigen, sondern kann schauen: Was will ich machen? Was sind meine Interessen, wo liegt mein Können? Will ich studieren? Oder eine Ausbildung machen?

Quast: Man muss in jungen Jahren manchmal Druck machen. Wer sich trotzdem arbeitslos meldet, muss im Sinne von Fördern und Fordern beim Jobcenter sehr schnell einen Termin bekommen, in dem es dann auch um die individuellen Interessen und Fähigkeiten geht. Zudem wird bei Hartz IV die Wohnung bezahlt, ein Teil der Nebenkosten, und dann hat man noch den Bar-Betrag, man kann sich Lebensmittel bei der Tafel holen und die Klamotten beim Sozialkaufhaus.

Heusgen: Ich glaube, jeden Tag zur Tafel zu gehen, ist keine Freude.

Quast: Das stimmt, da muss man Hilfe leisten. Aber die Parteien wollen dafür allen ab 100.000 Euro Jahreseinkommen mehr abnehmen, um Steuererleichterungen für die Menschen zu finanzieren, die weniger bekommen. Um 100.000 Euro in diesem Land zu verdienen, brauche ich aber in der Regel eine gute Abiturnote, ein Studium, oder muss ein guter Handwerksmeister sein, und dann oftmals 60 Stunden die Woche arbeiten. Soll solch eine Person für jemanden zahlen, der es – überspitzt gesagt – nicht gebacken bekommt? Ist das fair?

Heusgen: Ich glaube, es ist eine grobe Unterstellung, zu sagen, dass jemand es "nicht gebacken" bekommt. Was machen denn die Leute mit 100.000 Euro im Jahr?

Quast: Selbst wenn eine Person 150.000 Euro im Jahr verdient, ist es doch ihr Bier, was sie damit macht.

Heusgen: Ja, aber wir leben in einem sozialen Land. Die Leute, die die Mittel dazu haben, sollten die Anderen schon unterstützen.

Quast: Das passiert doch auch. Scholz will sogar 45 Prozent Spitzensteuersatz. Ist es gerecht, noch mehr abzuschöpfen?

Heusgen: Nehmen wir mal an, man würde die zwei Prozent, die man durch die Erhöhung des Spitzensteuersatzes mehr einnimmt, in die Bildung stecken...

Quast: ...es ist aber nicht geplant, alles in die Bildung zu investieren. Das System wird durch Umverteilung nicht geändert, die Minderheit arbeitet für die Mehrheit, so wirkt das auf dem Papier. Ich sehe keinen Grund, warum wir einen Steuersatz, der momentan ab 250.000 Jahreseinkommen gilt, schon bei 100.000 Euro anwenden sollen.

Heusgen: Ehrlich gesagt: Ich bin noch relativ jung im Arbeitsleben und kann mit solchen Dimensionen wenig anfangen. Für mich ist das einfach ein Riesenhaufen Geld. Würde ich 100.000 verdienen, müsste ich mein Leben in keinster Weise umstellen, wenn ich statt 43.000 dann 45.000 abdrücken müsste.

Quast: Das sagst du jetzt. 2.000 Euro sind viel Geld. Im Parteiprogramm der Linken gilt der Spitzensteuersatz sogar schon ab 70.000. Was daran gerecht ist, kannst du mir nicht erklären. Nur, weil es dem einen weniger weh tut – das ist kein Argument.

Heusgen: Ich finde die Idee der Umverteilung trotzdem gut. Es ist sinnvoll, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.

Quast: Ich würde, anders als die Linkspartei, jemanden, der 70.000 verdient, nicht unbedingt als reich bezeichnen. Der ist wohlsituiert oder gehört zum Mittelstand. Reich ist jemand, der ein Vermögen von einer Million oder mehr auf dem Konto hat.

Heusgen: Für mich ist reich, wer sich nicht um seine finanzielle Sicherheit kümmern muss. Ich würde auch mich mit meinem bescheidenen Studi-Leben als reich bezeichnen. Die Möglichkeit, nur einen Job zu machen, den ich wirklich will, die Möglichkeit, am Wochenende einfach nach Kroatien zu fahren, das heißt für mich, reich zu sein.

"Beschimpfungen finde ich grundsätzlich nie sinnvoll"

Jonathan Roth und Monika Haven © Sebastian Berger, Thomas Pirot für ZEIT ONLINE

Monika Haven, 55 Jahre alt, lebt in Taunusstein in Hessen. Sie ist von Beruf IT-Angestellte. Der Deutschland-spricht-Algorithmus hat sie mit Jonathan Roth zusammengebracht. Der 28-Jährige wohnt in Ettenheim, einer Kleinstadt in der Nähe von Freiburg. Roth promoviert in Biochemie. In insgesamt neun Deutschland-spricht-Fragen sind beide unterschiedlicher Meinung. Es ist Donnerstagabend, 19 Uhr, als beide sich per Videoanruf erstmals begegnen. Ein großes Streitthema: das Impfen.

Monika Haven: Jonathan, willst du anfangen? Wie findest du eine Impfpflicht für Erwachsene?

Jonathan Roth: Finde ich nicht zielführend, weil die geringe Impfbereitschaft auf fehlendem Vertrauen basiert – und das baut man nicht auf, wenn man die Leute zwingt. Bei bestimmten Berufsgruppen, die mit Menschen Kontakt haben, die sich nicht schützen können, fände ich es aber in Ordnung.

Haven: Man kann in Berufen, die mit Kranken arbeiten, darüber nachdenken. Aber nur, wenn es genug Langzeitstudien gibt. Für die breite Masse sollte es hingegen keine Pflicht geben, das sehe ich so wie du. Besonders bei Kindern und Jugendlichen unter zwölf bin ich kritisch. Die Gesunden unter ihnen sind durch Covid ja keinem Risiko ausgesetzt.

Roth: Ein gewisses Risiko sehe ich da schon, gerade durch Long Covid. Ich finde gut, dass sich auch diese Gruppe jetzt impfen lassen kann.

Haven: Auch in diesem Stadium? Ist das Risiko nicht größer, dass es Nebenwirkungen geben könnte, die man jetzt noch nicht kennt?

Roth: Ich glaube nicht, dass Langzeitfolgen zu erwarten sind. Die Wirkstoffe werden schnell abgebaut. Wenn da innerhalb eines Jahres nichts passiert ist, dann passiert jetzt auch nichts mehr. Und da haben wir ja bald schon einige Studien zu.

Haven: Ich bin da skeptischer. Eine Freundin von mir hat seit der zweiten Impfung vor einigen Wochen mit Schmerzen zu tun, Nebel im Kopf... ich bin mir nicht sicher, dass das alles so funktioniert. Ich habe Bedenken.

Roth: (überlegt lange) Darf ich fragen: Bist du geimpft?

Haven: Nein. Ich habe für's Gespräch heute mal nachgeschaut: Ich bin 54 und mein normales Risiko zu sterben, ist 0,2 Prozent in meiner Altersgruppe – die Corona-Sterblichkeit liegt da bei 0,5 Prozent. Damit kann ich leben. Aufgrund der Berichterstattung überschätzen die Leute ihr Risiko massiv, auch dazu gibt es Studien. Findest du es denn richtig, dass Geimpfte ihre Freiheiten früher zurückbekommen?

Roth: Auf jeden Fall. Jemandem zum Beispiel zu verbieten, ins Restaurant zu gehen, ist ein sehr starker Eingriff in die Grundrechte. Der lässt sich nur durch einen guten Grund rechtfertigen. Wenn mehr Leute geimpft sind und sich immer weniger anstecken können, fällt der Grund weg. Ab diesem Moment kann der Gesetzgeber nur noch die Rechte der Ungeimpften einschränken.

Haven: Dass sich Geimpfte nicht anstecken können und es nicht weitergeben können, ist nicht zu 100 Prozent sicher.

Roth: Stimmt, aber selbst bei der Delta-Variante wird die Schwere der Krankheit durch die Impfung reduziert – und je schwerer man erkrankt, desto ansteckender ist man auch, weil man mehr Virusmaterial produziert.

Haven: Und dass Gesunde benachteiligt werden, nur weil sie nicht geimpft sind, findest du richtig?

Roth: Als noch nicht genug Impfstoff da war, nicht. Jetzt aber hat jeder und jede die Möglichkeit. Und da muss ich sagen: Ja, finde ich ok.

Haven: Also nach dem Motto: Die Impfung ist das gewünschte Verhalten und wer nicht mitmacht, hat eben Pech gehabt?

Roth: Ja, das kann man im Kern so sagen.

Haven: Durch diese ganzen Schikanen gibt es mittlerweile einen indirekten Impfzwang, das finde ich nicht gut.

Roth: (Überlegt lange) Ich finde das schon gerechtfertigt. Stellenweise wurde ja schon 2G eingeführt, aber erst bei sehr hohen Inzidenzen, die bei mir in der Gegend nie erreicht wurden. Ich sehe es so: Solche Maßnahmen sind eine der letzten Möglichkeiten, regulierend einzugreifen, wenn man keinen Lockdown mehr will oder nicht mehr durchsetzen kann.

Haven: Ich finde die Kommunikation sehr übergriffig. Zuletzt habe ich gehört, ich sei bekloppt! Egoistisch, unsolidarisch, rechts, all das kam in letzter Zeit von Politik und Medien, und die Geimpften übernehmen diese Worte. Findest du das okay?

Roth: Die Diskussion ist mir auch zu feindselig. Ich sehe aber einfach keinen Grund, sich nicht impfen zu lassen. Am Anfang bei den AstraZeneca-Problemen war das etwas anderes, aber jetzt werden hauptsächlich Moderna und Pfizer verwendet. Da gibt es viele Studien, die Nebenwirkungen sind vernachlässigbar. Ich war nach der Zweitimpfung auch eine Woche krank, hatte eine Immunreaktion, mein Arm tat weh und ich war erschöpft. Ich finde das zumutbar.

Haven: Wenn es dabei bleibt...

Roth: Das ist die Regel.

Haven: Aber das weißt du ja vorher nicht. Ich bin mal in einem Forum gelandet, wo sich Leute nach der Impfung über die Nebenwirkungen austauschen. Keine Impfgegner, viele Leute in deinem Alter, die sich in gutem Glauben haben impfen lassen und jetzt seit Wochen von Arzt zu Arzt pilgern und vor Schmerzen nicht wissen, was sie machen sollen. Aber meine Frage war: Findest du es gut, dass Ungeimpfte von Politik und Medien beschimpft und herabgewürdigt werden: Bekloppt, Querdenker sowieso, Schwurbler, geringes Bildungsniveau, AfD-Wähler?

Roth: Beschimpfungen finde ich grundsätzlich nie sinnvoll. Ich finde es aber gerechtfertigt, Leute zu drängen, sich impfen zu lassen.

Haven: Auch mit Geld? Wenn wir uns treffen würden und du mich zufällig infizierst, muss ich als Ungeimpfte vielleicht bald ohne Lohnfortzahlung in Quarantäne. Du warst auch eine Woche krank nach der Impfung – das bezahlt aber die Solidargemeinschaft. Ist das solidarisch?

Roth: (Überlegt lange) Jein. Ich finde es unsolidarisch, wenn Menschen, die sich nicht impfen lassen, in Quarantäne Lohnausfälle haben. Ich finde es aber wesentlich unsolidarischer, sich nicht impfen zu lassen.

Haven: Es haben sich jetzt rund 60 Prozent freiwillig impfen lassen, weil sie Angst um ihre Gesundheit haben oder ihre Freiheiten zurückwollen – das ist an sich ja schon verrückt. Wo sind wir hier bloß hingeraten? Du als Geimpfter kannst dich auch anstecken oder das Virus weitertragen – warum muss man jetzt bis zum letzten Mann alle impfen?

Roth: Man muss nicht alle impfen. Es sollten ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung sein, und die sind noch nicht erreicht.

Haven: Aber es wird doch keine Herdenimmunität geben!

Roth: Die Impfung bedeutet: Auch, wenn die Menschen noch erkranken können, ist der Verlauf nicht so schwer. Es müssen weniger Menschen auf die Intensivstationen. Die Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen sind gut beschäftigt gewesen die letzten Jahre. Man muss das System nicht immer an der Belastungsgrenze fahren.

Haven: Aber das haben wir doch die letzten Jahre auch gemacht. Was war denn die anderen Winter los, wenn starke Grippewellen waren, da hat sich kein Schwein dafür interessiert. Das ist ja das Schlimme, die Politik wird immer erst munter, wenn es kocht.

Roth: Ja, das ist ein Problem, da gebe ich dir Recht.

"Verbote sollten das allerletzte Mittel sein"

© Thomas Victor, Thomas Pirot für ZEIT ONLINE

Alexander Will, 64 Jahre alt, ist Ingenieur und lebt im bayerischen Obernbreit. Er diskutiert mit Pascal Wegner, 34, einem Paketzusteller aus Magdeburg. Auch sie sind in neun Fragen unterschiedlicher Meinung. Es ist Freitagabend, 20:30 Uhr, als beide ihre Kameras anschalten und ihr Gespräch beginnen.

Alexander Will: Alles gut?

Pascal Wegner: Ja, bin gerade rein und habe schnell was gegessen.

Will: Alles gut. Du bist Paketzusteller, richtig? Also einer der Helden momentan!

Wegner: Würde ich nicht so sehen, ich finde das etwas hysterisch. Klar, wir haben jetzt mehr zu tun, aber ich könnte auch um 16 Uhr Schluss machen – da muss man sich auch selbst drum kümmern. Die Bemitleidung der Zusteller ist übertrieben, finde ich.

Will: Wir beide scheinen ja politisch sehr unterschiedlich zu denken. Immerhin neun Fragen haben wir anders beantwortet. Für mich kann ich zumindest sagen: Der Klimawandel ist mein Ding gerade, ich halte das für das wichtigste Thema der Menschheit. In Deutschland läuft da noch sehr viel schlecht. Siehst du das anders?

Wegner: Nein, das finde ich auch. Wenn ich sehe, dass Menschen mit dem SUV zum Brötchenholen fahren, könnte ich verrückt werden. Ich versuche bei mir anzufangen: Ich dusche nicht jeden Tag, meine Freundin spart ihr Badewasser, damit spülen wir das Klo runter...

Will: Ah, macht ihr das mit Eimern?

Wegner: Mit 1-Liter-Kannen.

Will: Da seid ihr aber ganz schön weit.

Wegner: Was noch mehr bringt: Wir als vierköpfige Familie verzichten auf ein Auto. Wir waren noch nie auf Malle, wir fahren mit dem Zug in den Urlaub, meist in Deutschland. Ich finde es wichtig, dass jeder erst mal vor der eigenen Haustür kehrt.

Will: Wow, ich finde toll, was du machst. Ich habe zu Hause Grünstrom und seit sieben Jahren ein E-Auto, da habe ich mittlerweile ein richtig gutes Gewissen.

Wegner: Aber was ist mit den Batterien? Ich habe gelesen, dass man für das Recycling noch keine Lösung hat.

Will: Das ist eigentlich kein Problem – nur die jetzigen E-Autos sind noch nicht auf Recycling gebaut. Bei Benzinern gab es eine Verordnung, dass sie leicht recyclebar sein müssen. Wenn heute ein zehn Jahre altes Auto auf dem Schrottplatz landet, bekommst du die Materialien in wenigen Handgriffen auseinander. Das geht aber nur, weil das so gesetzlich vorgeschrieben wurde.

Wegner: Apropos gesetzliche Vorschriften: Bist du auch dafür, Inlandsflüge zu verbieten?

Will: Es ist ja auch verboten, Autos im Stand laufen zu lassen. Ein Teil von mir sagt deshalb: Man sollte Flüge verbieten, eigentlich gleich in ganz Europa. Flüge nur bis zur Küste und alles innereuropäische mit Zügen. Ist unpopulär, aber rein persönlich hätte ich nichts dagegen.

Wegner: Okay... auch wenn man von Deutschland nach Portugal möchte?

Will: Perspektivisch ja, denn es ist blöd, Grenzen zu ziehen, also zu sagen: 1.000 Kilometer Strecke sind okay, aber ab 1.001 Kilometer nicht.

Wegner: Genau!

Will: Die Zug-Infrastruktur muss einfach besser werden, Frankreich hat es vorgemacht: Sie haben Air France gestützt, aber haben gesagt: Moment, ihr kriegt das Geld unter der Auflage, dass ihr mit der Staatlichen Eisenbahngesellschaft zusammenarbeitet und einen großen Teil der Flugreisen auf die Schiene verlegt. In Frankreich funktioniert das, da fahren alle mit dem TGV. So was schwebt mir vor, Hochgeschwindigkeitszüge.

Wegner: Aber ich habe auch gehört, dass die neueren ICEs langsamer gebaut werden, die fahren nur noch 250 Stundenkilometer, und zwar weil mehr Geschwindigkeit auf der Strecke Köln-Frankfurt so viel Energie kostet, wie ein Einfamilienhaus im ganzen Jahr benötigt.

Will: Das ist ein Problem, ja. Eine weitere Maßnahme, die ich gut fände: Flugbenzin sollte genau so besteuert werden wie der Diesel-Sprit.

Wegner: Da bin ich anderer Meinung. Ich muss sagen: Ich bin liberal und gegen Steuern, manchmal finde ich selbst die FDP sozialistisch. Ich finde, die Verantwortung solle bei den Bürgern liegen. Zudem dreht sich die Welt immer schneller, Innovationen und Moden kommen und gehen. Dass die Menschen auf einmal entschleunigen sollen und innerhalb Europas viele Stunden mit dem Zug statt zwei Stunden mit dem Flieger brauchen, darin sehe ich ein Problem. Ich weiß nicht, ob die das akzeptieren.

Will: Es stimmt, das Eisenbahnnetz ist langsam, besonders in Deutschland. Der ICE von Würzburg nach Frankfurt fährt über den Spessart gefühlt mit 50 Km/h.

Wegner: Du meinst also, wir müssen uns auf eine langsamere Zukunft einstellen?

Will: Ja, ich denke schon.

Wegner: Ich bin nur der Meinung, man sollte sich nicht komplett von einem Weg verabschieden, sondern schauen, ob es Brücken oder Abkürzungen gibt. Wir kennen heute alle nicht die Möglichkeiten der Fortbewegung und Energiegewinnung, die es in 20 Jahren geben wird.

Will: Eigentlich haben wir schon länger die Technologien, um schon jetzt CO2-neutral zu arbeiten, zum Beispiel Windräder, Solarkraft – wir hätten sie nur bauen müssen. Das ärgert mich speziell an dem FDP-Chef Christian Lindner: Wir müssen nicht auf die Technologien warten, wie er sagt, es ist jetzt schon zu spät! Man hätte die Technologien vor 20 Jahren einführen müssen: Durch geschickte Lenkung des Staats. Merkel ist ja gestartet als Klimakanzlerin – wenn man ihren Weg von damals weitergegangen wäre, dann wären wir weiter. Aber es gab nur Bremsen.

Wegner: Mich stört aber auch die Ideenlosigkeit der Grünen, verbieten, verbieten, verbieten. Das bringt uns nicht weiter. Die Menschen blocken ab und wir verlieren beim Wohlstand. Ich finde: Verbote sollten das allerletzte Mittel sein.

Redigatur: Philip Faigle und Philipp Daum
Fotografie: Simon Koy, Thomas Victor, Sebastian Berger, Thomas Pirot
Bildredaktion: Michael Pfister